Interview mit Reem Alabali-Radovan

„Ich bringe eine andere Perspektive mit“

Für Reem Alabali-Radovan dürfte das vergangene Jahr eines auf der politischen Überholspur gewesen sein. Erst 2021 trat die heute 32-Jährige der SPD bei – und wurde im September direkt in den Bundestag gewählt. Doch damit nicht genug: Die studierte Politikwissenschaftlerin, die zuvor Integrationsbeauftragte der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern war, ist heute Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration und die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus. Wie es dazu kam, welche Rolle ihre eigene Migrationsgeschichte bei ihrer Arbeit spielt – und was ihre Leidenschaft fürs Boxen mit Integrationspolitik zu tun hat, verrät Reem Alabali-Radovan im schriftlichen Interview.

EAF Berlin: Frau Alabali-Radovan, wann haben Sie begonnen sich politisch zu engagieren und was gab damals den Ausschlag?

Reem Alabali-Radovan: Politik hat mich schon immer interessiert, ich habe auch Politikwissenschaften studiert. Den Ausschlag selbst aktiv in die Politik zu gehen, gaben dann die Anschläge von Halle und Hanau. Das war eine Zäsur, ein Schock, der mir gezeigt hat: So kann es nicht weitergehen! Ich will laut statt leise sein gegen Rassismus und Antisemitismus. Ich will selbst mitmachen und mitgestalten, damit es besser wird. Darum bin ich in die Politik gegangen.


EAF Berlin: Sie wurden als Tochter irakischer Eltern in Moskau geboren, kamen 1996 mit ihrer Familie nach Mecklenburg-Vorpommern. Welche Rolle spielt dieser Hintergrund bei Ihrer politischen Arbeit?

Reem Alabali-Radovan: Ich bringe eine andere Perspektive mit, sowohl aus persönlicher als auch aus beruflicher Sicht. Ich kenne die Chancen, aber auch die Hürden für Familien mit Flucht- oder Einwanderungsgeschichte aus verschiedenen Blickwinkeln. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit auch Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, in der Schule mitkommen? Wo findet man den nächstgelegenen Integrationskurs und wer darf teilnehmen? Warum ist die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse so schwierig? Wer erhält einen Aufenthaltstitel und wie lange dauert das? Da gibt es viele Fragen und Dinge, die meine Familie und ich erlebt haben, die mich prägten und jetzt auch politisch antreiben, damit wir ein modernes Einwanderungsland mit gleichen Chancen für alle werden.

EAF Berlin: 2021 wurden Sie SPD-Mitglied und auch erstmals in den Bundestag gewählt, wenige Monate später zur Staatsministerin für Integration ernannt, kürzlich zur Antirassismus-Beauftragten der Bundesregierung. In Medien war auch von einer „Blitzkarriere“ die Rede. Gab es dennoch auch Herausforderungen auf dem Weg in den Bundestag und wie haben Sie diese gemeistert?

Reem Alabali-Radovan: Um für ein politisches Mandat zu kandidieren, braucht es viele Schultern, die einen tragen. Man braucht starke Unterstützer*innen, die einem Rückenwind geben und auch Mut machen, zum Beispiel als im Bundestagswahlkampf der Hass und Rassismus auf meinem Social Media-Account tobte. Es ist eine große Ehre und Verantwortung, das in mich gesetzte Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nun als direkt gewählte Abgeordnete zu erfüllen. Auch das schafft man nicht alleine, sondern nur gemeinsam.

EAF Berlin: Inwiefern müssen sich Strukturen verändern, damit mehr Menschen mit Migrationsbiografie sich politisch engagieren und in Parlamenten vertreten sind? Welche Rolle spielen hier die Parteien?

Reem Alabali-Radovan: Da ist viel zu tun! Wir müssen mehr aufeinander zugehen, mehr begeistern, selbst Vorbild sein und klar sagen, dass wir politisches Engagement von jungen Menschen aus Familien mit Einwanderungsgeschichte brauchen. Das ist unser Land, unsere gemeinsame Zukunft, also macht mit! Viele sind super engagiert, ob bei Fridays for Future, Black Lives Matter oder im Jugendclub – aber zu selten in politischen Parteien. Wir müssen erkennen, woran das liegt. Und die Parteien müssen sich mehr öffnen, attraktivere Angebote für junge Menschen machen und mehr Mentoring-Programme anbieten, die den Weg ebnen und Netzwerke aufbauen.  

EAF Berlin: Wie wichtig ist gerade beim Einstieg in die Politik eine Unterstützung durch Wissens- und Erfahrungsaustausch und welche Rolle hat das bei Ihrem Weg in die Politik und zum Bundestagsmandat gespielt?

Reem Alabali-Radovan: Das ist das A und O. Ich hatte die Erfahrungen aus meiner Arbeit im Sozialministerium und als Integrationsbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Aber die erste Sitzung im Ortsverein meiner Partei war dann doch etwas anderes. Da haben mir Rat und Tat vieler Genossinnen und Genossen sehr geholfen.

EAF Berlin: Was möchten Sie persönlich als Staatsministerin für Integration und Antirassismus-Beauftragte der Bundesregierung erreichen?

Reem Alabali-Radovan: Ich setze mich dafür ein, dass Deutschland ein modernes Einwanderungsland wird, in dem endlich alle die gleichen Chancen haben und es keine Rolle spielt, woher jemand kommt, wie jemand heißt oder aussieht. Es muss normal sein, dass die Vielfalt unserer Gesellschaft in allen Bereichen angemessen vertreten ist: in der Politik, in den Vorstandsetagen, in den Medien, im Ehrenamt. Da müssen wir dringend besser werden, in vielen Bereichen, auch im Öffentlichen Dienst. Dabei geht es auch um Respekt und eine wehrhafte Demokratie. Im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus werden wir klare Kante zeigen und den Radikalen den Nährboden entziehen.

Sie sind Hobby-Boxerin. Lernt man hier Dinge, die auch in der Politik von Nutzen sein können?

Reem Alabali-Radovan: Momentan finde ich leider selten die Zeit zum Boxen. Aber ich versuche, so oft es geht in der Halle bei meinem Verein BC Traktor Schwerin vorbei zu schauen. Beim Boxen geht es um Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, aber auch um Respekt für seinen Gegenüber und gemeinsame Regeln. Genau das brauchen wir in der Integrationspolitik und es ist kein Zufall, dass ich Projekte im Sport fördere, gemeinsam mit dem DFB und DOSB. Dort verknüpfen wir Sport mit Bildungsangeboten, auch für Frauen, Männer und Kinder mit Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte.

Reem Alabali-Radovan (SPD) wurde 1990 in Moskau geboren. Die studierte Politikwissenschaftlerin war von 2018 bis 2020 Leiterin des Büros der Integrationsbeauftragten der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern beim Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung. Von 2020 bis 2021 arbeitete sie als Integrationsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern. Seit Dezember 2021 ist sie Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, seit 2022 die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus.