Interview mit Awet Tesfaiesus

Awet Tesfaiesus: Verschlossene Türen öffnen

Der Weg in die Politik sei für sie ein großer Schritt gewesen, meint Awet Tesfaiesus. Auch weil ihr Vorbilder gefehlt hätten. Im September 2021 zog die Grünen-Politikerin als erste Schwarze Frau in den Deutschen Bundestag ein. Und will nun unter anderem das Anti-Diskriminierungsgesetz reformieren.

EAF Berlin: Sie sind 2021 als erste Schwarze Abgeordnete in der Geschichte in den Bundestag gewählt worden. Was bedeutet das für Sie persönlich?

Awet Tesfaiesus: Als Schwarze Frau freue ich mich, dass eine weitere Tür, die für uns verschlossen war, nun geöffnet werden konnte. Es ist ein wichtiger historischer Moment, bei dem es weniger um meine Person geht als darum, dass strukturelle Diskriminierung Schritt für Schritt aufgebrochen wird.

EAF Berlin: Als wie divers erleben Sie den Bundestag? 

Awet Tesfaiesus: Diversität fehlt insgesamt in unserer Gesellschaft – in Schulen, bei Behörden, in den Führungsetagen von Unternehmen. Im Bundestag ist das nicht anders. Wir alle wissen, das BPoCs in der Politik unterrepräsentiert sind. Insgesamt hat ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland Migrationsgeschichte – im Bundestag gilt das für nur elf Prozent der Abgeordneten.

EAF Berlin: Inwiefern müssen sich Strukturen verändern, damit sich mehr Menschen mit Migrationsbiografie und BIPoC politisch engagieren und in Parlamenten vertreten sind? Welche Rolle spielen die Parteien?

Awet Tesfaiesus: Aus meiner persönlichen Erfahrung, möchte ich beispielhaft zwei Punkte herausstellen, die für mehr Teilhabe in der Parteipolitik wichtig sind: 

Erstens, für mich als Politikerin ist intersektionales Arbeiten essenziell. In den Parteien ist die Arbeit oft monolithisch organisiert:  Es gibt Gruppen für Frauen, für Menschen mit Behinderung, für PoCs. Diese Organisationsstruktur führt dazu, dass sich eine PoC Frau mit Behinderung die Frage stellen muss: Wo werden meine Themen repräsentiert? Wenn in dieser Organisationsstruktur Feminist*innen von der Pay-gap sprechen, weiß ich nicht, ob sie die Pay-gap zwischen BPoC-Frauen und weißen Frauen sehen? Auch PoCs, die sich als Arbeiter*innen sehen, würde es helfen, wenn sie sich in einer intersektionalen Gruppe wiederfinden können. Denn, es ist verletzend, wenn die eigenen Themen übersehen werden. Nur, wenn Parteien und Organisationen das spezifische Zusammenwirken von unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmalen berücksichtigen, können sie Antidiskriminierungspolitik für Alle machen. 

Zweitens, Parteien müssen aufhören zu denken, wenn sie eine oder zwei PoC-Frauen in ihren Reihen haben, sei die Arbeit getan. Bei den Grünen etwa sind Frauen stark repräsentiert, da jeder zweite Platz von einer Frau besetzt wird. Als schwarze oder türkische Frau oder als Frau im Rollstuhl sieht die Realität anders aus. Deshalb haben wir Grünen im Dezember 2020 unseren Vielfaltsstatut verabschiedet, mit dem Ziel, dass sich die Vielfalt unserer Gesellschaft auch in unserer Partei wiederspiegelt.

Ich bin hoffnungsvoll, dass die neue Generation von Politiker*innen mit einem neuen Selbstverständnis auftreten und Strukturen in ihrer praktischen Arbeit verändert.

EAF Berlin: Wie wichtig ist gerade beim Einstieg und bei den ersten Schritten in der Politik eine Unterstützung durch Wissens- und Erfahrungsaustausch und welche Rolle hat das bei Ihrem Einstieg in die Politik und beim Weg zum Bundestagsmandat gespielt?

Awet Tesfaiesus: Ich persönlich konnte mir Politik lange nicht vorstellen. Ich habe mich als Schwarze Frau in dieser Rolle nicht gesehen, wohl auch weil ich keine Vorbilder hatte. Meine Rolle sah ich vielmehr in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit.

Dass ich ins Stadtparlament gegangen bin, war für mich ein großer Schritt. Als die AFD stärker wurde und sich abzeichnete, dass die Partei ins Stadtparlament einziehen würde, musste ich dem etwas entgegen setzen. Ich fand, dass es höchste Zeit war, dass unser Stadtparlament eine Schwarze Frau als Mitglied hat. Es hat also lange gedauert, mich in meiner jetzigen Rolle zu sehen.

Wissens- und Erfahrungsaustausch sind immer und überall wichtig ist, nicht nur für BPoCs. Was vielen BPoCs auf dem Weg in die Politik allerdings oftmals fehlt, sind geschützte Räume, wo dieser Erfahrungsaustausch - auch zu Diskriminierungserfahrungen - stattfinden kann. Genauso wie es Frauen für sich immer mehr entwickeln, bräuchte es für BPoCs Netzwerk- und  Empowernmenträume.

EAF Berlin: Sie haben in Interviews gesagt, dass der Anschlag in Hanau eine große Rolle gespielt habe, bei Ihrer Entscheidung für den Bundestag zu kandidieren. Welche Gedanken haben dabei eine Rolle gespielt?

Awet Tesfaiesus: Ich bin bei den Grünen eingetreten, weil ich die europäische Asylpolitik und die vielen Toten im Mittelmeer nicht ertragen habe. Und ich habe mich entschieden für den Bundestag zu kandidieren, weil ich den seit Jahren andauernden Rechtsruck in unserem Land bis hin zu den rassistischen Anschlägen von Hanau nicht ertragen will.

In meiner Jugend erlebte ich die Anschläge in Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen. Damals habe ich mir die Frage stellen müssen, ob es für mich in Deutschland überhaupt eine Zukunft geben kann. Es ist unfassbar, dass ich mir 30 Jahre später die gleichen Fragen stellen musste.

All diesen Vorfällen ist gemein, dass ihre Ursache Rassismus ist. Ich möchte, dass nicht nur ständig  über Rechtsextremismus gesprochen und damit lediglich an der Spitze des Eisbergs gekratzt wird. Wir müssen endlich dazu übergehen, die Strukturen zu erkennen und zu verändern. Wir müssen Rassismus benennbar machen.

EAF Berlin: Sie sind Mitglied im Rechtsausschuss und im Ausschuss für Kultur und Medien. Wie sieht hier Ihre Arbeit aus und was wollen Sie konkret erreichen?

Awet Tesfaiesus: Mein Arbeitsrhythmus unterscheidet sich in Sitzungswochen und sitzungsfreien Wochen. In sitzungsfreien Wochen agiere ich in meinem Wahlkreis Werra-Meißner - Hersfeld-Rotenburg. Dort treffe ich mich mit Initiativen und Menschen, deren Perspektiven ich dann auf politischer Ebene in Berlin in meine Arbeit einfließen lasse. 

Als Grüne treffen wir uns in Arbeitsgemeinschaften, um gemeinsame Positionen zu erarbeiten, die wir dann in den Ausschüssen vertreten. Im Kulturausschuss bin ich Obfrau und für die Koordinierung mit den anderen Fraktionen, insbesondere den anderen Obleuten für die Koordinierung der Ausschusssitzungen, verantwortlich. Im Rechtsausschuss, bzw. in der Ausschussarbeit im Allgemeinen, treffe ich mich anfangs der Woche mit den anderen Grünen Ausschussmitgliedern zur Vorbereitung auf die Ausschusssitzungen, die dann Mitte der Woche stattfinden. In den Ausschüssen debattieren und entscheiden wir über die unterschiedlichen Anträge der Fraktionen und lassen uns regelmäßig von geladenen Expert*innen beraten. 

Für die politische Arbeit ist der Austausch mit Stakeholdern wichtig. Gerade jetzt in der Anfangszeit meiner ersten Legislaturperiode ist meine Arbeit von Kennenlernen und Austausch mit verschiedenen Akteur*innen geprägt. Dieser co-kreative Meinungsbildungsprozess ist für mich enorm wichtig, denn ich möchte nicht losgelöst sondern mit der Zivilgesellschaft gemeinsame politische Positionen entwickeln.

Besonders wichtig ist mir natürlich in dieser Legislaturperiode an der Reform hin zu einem wirksamen Anti-Diskriminierungsgesetz zu arbeiten. Kulturpolitische ist für mich das ebenfalls sehr komplexe Thema Dekolonialisierung ein bedeutendes Anliegen.

EAF Berlin: Gab es besondere Herausforderungen auf dem Weg in den Bundestag von denen Sie vielleicht gerne früher gewusst hätten und wie haben Sie diese gemeistert?

Awet Tesfaiesus: Eines der  Herausforderungen für mich war, dass es kaum Vorbilder gab, weil es kaum Schwarze Menschen gibt, die diesen Weg gegangen sind und an denen ich mich orientieren konnte. Man wächst mit einem Bild von sich und seiner Rolle in dieser Gesellschaft auf. Dazu gehören auch die vermeintlichen Rollen, die einem als Schwarze Frau zugewiesen werden. Gegen diese verinnerlichten Bilder des eigenen Ichs gilt es anzukämpfen und seine Rolle in dieser Gesellschaft selbst zu bestimmen.

Kraft kann ich allenfalls daraus schöpfen, dass viele folgen werden! Ich möchte jüngere Menschen durch meine Tätigkeit dazu ermutigen, sich bei ihrer Berufswahl, aber auch bei der Frage, ob sie sich politisch engagieren wollen, nicht davon abschrecken zu lassen, dass sie vielleicht die einzigen Schwarzen, die einzige Frau, die einzige nicht-Akademikerin etc. in einem Bereich sind.

Awet Tesfaiesus wurde 1974 in Asmara, Eritrea, geboren. 2001 absolvierte Sie das erste juristisches Staatsexamen an der Universität Heidelberg, 2006 das zweite juristische Staatsexamen am Oberlandesgericht Frankfurt a. M. Seit 2008 ist sie Partnerin in einer Kanzlei. Seit 2016 ist sie Stadtverordnete sowie Sprecherin für Integration und Gleichstellung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Kasseler Rathaus und seit 2019 Stv. Fraktionsvorsitzende. Seit 2021 hält sie ein Bundestagsmandat inne.