Größere Vereinbarkeit durch weniger Arbeit – ein Beispiel aus Tübingen

Wie können ehrenamtliche Politiker*innen entlastet werden? Welche Maßnahmen führen zu besserer Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Ehrenamt? Und wie kann unterstützt werden, dass auch Menschen in der Mitte des Lebens ein politisches Amt ergreifen? In Tübingen wurden im Gemeinderat in der Praxis etliche Maßnahmen auf den Weg gebracht, die direkt Wirkung zeigen.

Parität erreicht – aber keine Repräsentation der Gesellschaft

„In Tübingen ist es schon seit Langem das erklärte Ziel, für eine angemessene Repräsentation von Frauen zu sorgen – auf Verwaltungs- wie auf politischer Ebene“, sagt Ulrich Narr. Narr ist als Leiter des Fachbereichs Kommunales in Tübingen unter anderem für die Begleitung der Arbeit im Gemeinderat zuständig. Parität sei im Tübinger Gemeinderat mittlerweile nahezu erreicht. Allerdings: Was die Altersverteilung anbelangt, ist längst kein Querschnitt gegeben, vielmehr ist die deutliche Mehrheit der Gemeinderät*innen 60+.

Ein Grund: „Die Arbeitsbelastung für die Gemeinderäte hat deutlich zugenommen“, so Narr. So seien die Themen zunehmend komplexer, fordern mehr Vorbereitungszeit und führen zu immer mehr und längeren Sitzungen. „Wenn ich das als Gemeinderat ernsthaft ausführen möchte, nimmt das pro Woche 10 bis 20 Stunden in Anspruch – wohlgemerkt als Ehrenamt. Das mit Beruf und Familie zu vereinbaren, ist kaum möglich“, stellt der Fachbereichsleiter fest.

Höhere Effizienz und Arbeitsentlastung als Ziele

Effizientere Abläufe, komprimiertere Sitzungen und individuelle Arbeitserleichterungen – dafür sollten in Tübingen im Vorfeld der Kommunalwahl 2019 konkrete Maßnahmen erarbeitet und getestet werden. „Es ging damals gar nicht nur um die Vereinbarkeit, sondern schlicht darum, die Arbeitsbelastung insgesamt besser in den Griff zu bekommen“, erzählt Narr. Dies sei im Interesse aller Altersstufen gewesen und so ging ein klarer Auftrag an den Fachbereich Kommunales, hier kreative Ideen zu entwickeln. Alle Vorschläge sollten dann erst einmal vorläufig umgesetzt und getestet werden.

Finanzielle Unterstützung für Fraktionen und Räte

Der erste Ansatz zur Entlastung der Rät*innen war denkbar konkret: Für die einzelnen Fraktionen gab es Geld , mit dem sich diese professionelle Unterstützung für verschiedene Aufgaben holen konnten. Laut Narr nehmen die Fraktionen diese Möglichkeit sehr unterschiedlich wahr: Mal wird eine hauptamtliche Person vor allem für administrative Tätigkeiten eingestellt, wie Abrechnungsvorgänge, für die inhaltliche Arbeit wie Recherchen, oder auch die Aufbereitung von Unterlagen für die Fraktions-, Ausschuss- und Ratssitzungen. Zusätzlich wurden die Entschädigungssätze für die ehrenamtlichen Gemeinderät*innen deutlich erhöht. „Damit sollte den Gemeinderäten die Möglichkeit gegeben werden, ihre hauptamtliche Arbeit gegebenenfalls zu reduzieren und mehr Zeit zu haben für die politische Arbeit – einige haben das auf dieser Grundlage tatsächlich auch gemacht“, sagt Narr.

Erhöhtes Sitzungsgeld bei Betreuungs- oder Pflegebedarf

Ergänzend gibt es in Tübingen schon seit Längerem die Möglichkeit, bei familiären Verpflichtungen grundsätzlich ein erhöhtes Sitzungsgeld zu beantragen. Dies heißt konkret: Ist man als Gemeinderat oder -rätin verantwortlich für eine*n betreuungs- oder pflegebedürftigen Angehörigen, kann man einmalig einen Antrag auf erhöhtes Sitzungsgeld stellen, um während der Sitzungen die externe Betreuung finanzieren zu können. In Folge erhält der*die politische Vertreter*in bei jeder Sitzung grundsätzlich den Betreuungszuschuss –in Tübingen aktuell 130 Euro statt 75 Euro pro Sitzung bei einer Dauer von 4 bis 6 Stunden. „Das bewährt sich sehr und wird auch regelmäßig in Anspruch genommen“, so Narr. Dabei bringe es durch die einmalige Antragsstellung und -bewilligung kaum Verwaltungsaufwand mit sich, dafür eine deutliche Erleichterung für die Gemeinderät*innen.

Maßnahmen-Mix zur Straffung und Kürzung der Gemeinderatssitzungen

Weitere Maßnahmen sollen die Sitzungen straffen und die Vor- und Nacharbeit reduzieren.

  • Eine „kleine, aber wirkungsvolle“ Regelung ist hierbei laut Narr die Vorgabe, die Kernpunkte zu einem Anliegen auf maximal 4 Seiten darzustellen, ergänzt durch einen ausführlichen Anhang für alle, die tiefer einsteigen möchten. „Früher gab es teilweise 15-seitige Informationen zu nur einem Punkt. Das hat die Vorbereitungszeit deutlich erhöht“, so Narr.
  • Zudem wurde die Funktion des Rates als Entscheidungsgremium betont. So wird in Tübingen im Vorfeld einer Sitzung genau geklärt, zu welchen Punkten der Tagesordnung überhaupt ausführliche Stellungnahmen erwünscht sind. Nur dort gibt es dann auch eine eingehende Debatte, bei allen weiteren Punkten findet nur eine kurze Abstimmung statt. „Vorher gab es teilweise eine langwierige Abfolge von Stellungnahmen zu Punkten, bei denen sich eigentlich eh alle einig waren….das hat unnötig viel Zeit in Anspruch genommen“, sagt Narr.
  • Eine weitere Vorgabe lautet: Sachfragen im Gemeinderat zu bestimmten Themen, die bereits in Ausschüssen verhandelt wurden, wird nur dann stattgegeben, wenn es um wirklich neue Punkte geht. Der Hintergrund: „Der Gemeinderat dient der Beschlussfassung und der Debatte, die Klärung von Sachfragen findet in den Ausschüssen statt. Das ist manchmal aus dem Blick geraten“, so Narr.
  • Schließlich wurde die Fragestunde des Gemeinderats an die Verwaltung an das Ende der Sitzungen gelegt. Früher fand diese zu Beginn statt und hat laut Narr oft lange gedauert, bevor überhaupt die wesentlichen Punkte der Sitzung behandelt wurden.

Hybride Sitzungen als Schlüssel

Die verschiedenen Maßnahmen haben sich in Tübingen laut Narr voll bewährt und sollen nun verstetigt und fest in die Geschäftsordnung aufgenommen werden. Allerdings: Aus Sicht des Fachbereichleiters ist ein wesentlicher Schlüssel, um größere Vereinbarkeit von Ehrenamt, Beruf und Familie zu gewährleisten, noch nicht umsetzbar. „Der größte Hebel, den man ansetzen kann, um größere Vereinbarkeit zu erreichen, ist aus meiner Sicht die Etablierung von hybriden Sitzungen“, so Narr. Dabei gehe es nicht darum, sich nur noch online zu begegnen. Sondern es bietet die Möglichkeit, Sitzungen abzuhalten, bei denen ein Großteil im Saal anwesend ist, aber auch all jene teilnehmen können, die wegen verschiedener Gründe zuhause sind.

Während der Corona-Pandemie sei in Tübingen viel digital umgestellt worden, was zu Erleichterungen geführt habe. Bislang ist die Möglichkeit, auch von zuhause aus an einer Sitzung teilzunehmen und dort abzustimmen, allerdings nur auf Krisenphasen beschränkt und nicht grundsätzlich erlaubt. „Wir hoffen hier sehr auf eine Entscheidung auf Landesebene“, sagt Narr. Dies unterstütze im Übrigen auch eine große Mehrheit des Gemeinderats über alle Altersstufen hinweg. So wurde eine Resolution formuliert, die an die Einführung hybrider Sitzungen appelliert. Wird diese auf Landesebene genehmigt, gibt es in Tübingen bald noch eine Maßnahme zur Arbeitsentlastung mehr.

Autorin: Dorothea Walchshäusl