Die Gastartikel

Wenn nur Frauen wählten

Wie würden Wahlentscheidungen aussehen, wenn allein Wählerinnen ihre Stimme abgeben würden? Wäre die Welt eine andere? Gesellt sich zu den bekannten Lücken zwischen den Geschlechtern, wie dem Gender-Pay-Gap oder Gender-Pension-Gap auch ein Voting-Gender-Gap? Vanessa Vu schreibt hierzu ein Meinungsstück mit globaler Perspektive.

ÜBER DIE AUTORIN

Vanessa Vu

Vanessa Vu, Jahrgang 1991, ist Redakteurin für Politik und Gesellschaft bei ZEIT ONLINE, privat moderiert sie mit Minh Thu Tran den vietdeutschen Podcast "Rice and Shine". Sie schreibt und spricht vor allem über Migration, Gender und Diskriminierung. Bevor sie Journalistin wurde, hatte sie in München, Paris und London Ethnologie und Völkerrecht studiert und die Deutsche Journalistenschule besucht. Für ihre journalistische Arbeit erhielt sie den 1. Platz des Helmut-Schmidt-Nachwuchspreises und den Theodor-Wolff-Preis. Das Medium Magazin wählte sie 2018 zu den "Top 30 bis 30“.


Frauen haben andere politische Interessen als Männer. Würden nur sie wählen gehen, wäre die Welt eine andere – keine feministischere.

“Männer sind zu emotional, um zu wählen”, schrieb die US-amerikanische Suffragette Alice Duer Miller 1915. Das zeige ihr Verhalten bei Baseball-Spielen und politischen Versammlungen, “außerdem macht sie ihre angeborene Tendenz zur Gewaltanwendung besonders ungeeignet für Regierungsaufgaben.” Deswegen widerspreche sie der Männerwahl. Millers Aussage war weniger eine ernst gemeinte Forderung als eine satirische Antwort auf die gängigen Argumente gegen das Frauenwahlrecht. Doch das Gedankenspiel dahinter ist interessant: Was wäre, wenn nur Frauen über Machtfragen entschieden? Wäre die Welt eine andere?

Mit Blick auf die USA wäre die Antwort eindeutig: Ja. Hätten bei der letzten Präsidentschaftswahl nur Frauen gewählt, wäre heute nicht der bekennende Pussygrabber Präsident, dessen Mitarbeiter offenbar wichtige Papiere klauen und verstecken, um ihn von impulsiven Handlungen abzuhalten – sondern Hillary Clinton, die er als nasty woman bezeichnet hatte. Clinton könnte sich dabei auf eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung und im Wahlgremium stützen. Forscher nennen das Phänomen den Voting Gender Gap. Nach Untersuchungen des Pew Forschungsinstituts hatten in den späten Siebzigern Männer und Frauen noch ähnlich gewählt. Seitdem wird der Unterschied größer. Demnach interessieren sich US-Wählerinnen mehr als US-Wähler für Umwelt, Minderheiten- und Abtreibungsrechte, aber auch für soziale Sicherheit, Gesundheit und Schutz vor Terrorismus.

Das Wahlverhalten der Europäerinnen, aber auch die politische Landschaft in Europa sind komplexer; zu anderen Weltregionen gibt es kaum Zahlen bzw. es finden dort keine demokratischen Wahlen statt.

Einerseits treten Wählerinnen in vielen europäischen Ländern als Bollwerke gegen den Rechtspopulismus auf. In Frankreich wäre Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National bei der Präsidentschaftswahl 2017 gar nicht erst in die Stichwahl gekommen. Die Französinnen hätten vielen überzeugten Europäern viele Nerven gespart. Auch in Österreich wählen Frauen traditionell eher progressive als konservative Parteien. Bei der Präsidentschaftswahl 2016 hätte das zu einer klaren Mehrheit für den ehemaligen Grünen-Chef Alexander Van der Bellen geführt – anstatt eines langwierigen Tauziehens mit dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer, der mit dem Motto „Österreich zuerst“ in den Wahlkampf gezogen war. Bei der Parlamentswahl hingegen hätte eine Alleinwahl der Frauen die rechtspopulistische Koalition aus ÖVP und FPÖ nicht verhindert. Sie wäre aber auf 52 statt 62 Prozent gekommen.

Ein ähnliches Muster zeigt sich in Deutschland. Hätten bei der Bundestagswahl 2017 nur Frauen gewählt, wäre die in Teilen rechtsradikale AfD deutlich schwächer gewesen – und Angela Merkel deutlich stärker. Vor allem Wählerinnen haben Merkel die vierte Amtszeit gesichert: Unter den Wählerinnen erzielte sie 36 Prozent, unter den Wählern dagegen 30 Prozent.

Dabei hatte sich Merkel im Wahlkampf kaum explizit für Frauenanliegen stark gemacht. Die mächtigste Frau der Welt möchte auch nicht als Feministin bezeichnet werden. Das hatte sie zum ersten Mal 2017 beim Women20-Gipfel in Berlin gesagt und später bei einem Brigitte-Interview bekräftigt. Diese Haltung schlägt sich in ihrer Politik nieder. Mit ihrer Partei hält Merkel beispielsweise am sogenannten Ehegattensplitting fest, das in der Kritik steht, verheiratete Frauen durch Steuervorteile für ungleich verdienende Paare indirekt in alte Rollenbilder zu drängen. Außerdem stimmte Merkel gegen die “Ehe für alle” – ein langgehegtes Anliegen vieler feministischen Bewegungen Gleichstellungspolitische Themen sind also nicht wahlentscheidend für den Großteil der Wählerinnen.

Frauen als Anführerinnen im Rechtspopulismus?

Während Frauen tendenziell weniger radikal wählen, sind es häufig auch Frauen, die rechtspopulistische oder gar rechtsradikale Parteien erfolgreich anführen. Da gibt es zum Beispiel die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel, in Norwegen die Vorsitzende der Fortschrittspartei Siv Jensen, oder in Dänemark die Parlamentspräsidentin und langjährige Vorsitzende der Dansk Folkeparti, Pia Kjærsgaard. Das Beispiel Frankreich zeigt, dass die Kombination kein Paradox ist, sondern in die Erzählung der Frau als Trümmerfrau passt, die alte Scherben beiseite kehrt und Neues schafft, oder in die Erzählung als sorgende Mutter der Nation, die für die Reproduktion von Werten verantwortlich ist und aus dieser Position heraus besonders überzeugend gegen vermeintlichen Werteverfall durch progressive Lebensmodelle oder kulturellen Wandel kämpfen können.

Als Marine Le Pen 2011 die Partei ihres Vaters Jean-Marie Le Pen übernahm, wandelte sich die Parteibasis. Sie wurde jünger und weiblicher und damit anschlussfähiger. Es kamen also Personen, die der Vater noch mit seiner martialischen Art verschreckt hatte. Der völkisch-nationalistische Ton hingegen blieb auch mit Marine Le Pen. Die französische Politikwissenschaftlerin Nonna Meyer nannte die Entwicklung 2013 den "Le-Pen-Effekt". Meyers These: Mit derselben Agenda können Frauen mehr Stimmen erreichen.

Dass es tatsächlich mehr um das Geschlecht der Führungsfigur geht als um tatsächliche Verbesserungsvorschläge aus den Frauenbewegungen, zeigt auch ein Blick nach Polen. Dort regierte bis Ende 2017 Beata Szydło von der nationalkonservativen PiS-Partei. Szydło gilt als Unterstützerin des ultrakonservativen Bündnisses "Stoppt Abtreibung", das Abtreibungen selbst bei Vergewaltigungen oder Inzest unter Strafe stellen will und im März einen entsprechenden Gesetzesvorstoß erwirkt hatte. Szydło hielt auch an der umstrittenen Justizreform fest, in deren Konsequenz die Oberste Richterin des Landes, Małgorzata Gersdorf, in den Zwangsruhestand geschickt wurde. Hätten 2015 ausschließlich Polinnen gewählt, die PiS hätte noch mehr Sitze erhalten.

Hundert Jahre nach der Satire von Alice Duer Miller müssen Frauen kraft ihres Geschlechts nichts Bestimmtes mehr wollen oder tun, um sich als Frau in der Politik zu präsentieren. Das hätte die Suffragette womöglich gefreut. Weniger erfreut wäre sie womöglich über die Erkenntnis, dass Frauen nicht unbedingt für einen anderen Politikstil stehen. Es gibt in der Politik wie auch überall sonst Frauen, die anderen Frauen das Recht absprechen wollen, selbst über Partnerwahl, Kinderwunsch, Lebensstil und Körper zu bestimmen. Für die die Mann-Frau-Ehe die einzige wünschenswerte Familiengrundlage ist; für die Frauen erstmal Hausfrauen und liebende Mütter sein sollen. Es gibt Frauen, die gegen Frauenquoten sind und Frauen, die gegen muslimische Frauen hetzen oder Frauen, die die Ausbeutung von Putzfrauen, Pflegerinnen und Näherinnen mindestens hinnehmen. Das Geschlecht macht keine Politik. würden nur Frauen wählen, die Welt wäre eine andere. Sie wäre aber keine feministischere.