Die Rolle des Wahlrechts und der Parteien


Die tatsächlich gleichberechtigte politische Partizipation aller Bürger*innen ist das Ziel – der Weg dorthin unterschiedlich weit. In diesem Artikel werden zwei wesentliche Einflussfaktoren auf die Geschlechterrepräsentanz – das Wahlrecht und die Nominierungspraktiken der politischen Parteien – diskutiert.

In Deutschland gilt für die Parlamentswahlen auf Bundes- und Landesebene in der Regel das Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl. Das bedeutet, dass jede*r Wähler*in ein bis zwei Stimmen zur Verfügung hat. Mit der ersten wird ein*e Direktkandidat*in des Wahlkreises gewählt, die zweite geht an die normalerweise feste Liste einer Partei.

Grundsätzlich gilt für die Sitzverteilung auf Bundes- und Landesebene: Jeder Partei mit einem (Zweit)Stimmenanteil von mindestens fünf Prozent stehen dem (Zweit)Stimmenanteil entsprechend viele Sitze zu. Diese werden zunächst mit den gewonnenen Direktmandaten verrechnet. Übrige Mandate gehen dann an die Listenkandidat*innen in der vorgegebenen Reihenfolge bzw. an jene Bewerber*innen mit den meisten Einzelstimmen (bei der Verhältniswahl mit offenen Listen, wie in manchen Bundesländern). Falls einer Partei prozentual weniger Sitze zustehen, als sie Direktmandate gewonnen hat, entstehen die sogenannten Überhangmandate. Um eine Verzerrung des Ergebnisses durch unverhältnismäßig viele Überhangmandate zu kompensieren, werden zusätzlich Ausgleichsmandate vergeben. Der Einzug von in ihrem Wahlkreis erfolgreichen Direktkandidat*innen ins Parlament ist also sicher, während die Chance, dass eine Nominierung per Wahlliste zum Erfolg führt, vom Gesamtergebnis der Partei und nicht zuletzt auch von der Stärke der Direktkandidat*innen abhängt. Bei den Direktkandidaturen gilt das Mehrheitswahlrecht, das heißt, dass lediglich der Kandidat bzw. die Kandidatin mit den meisten Stimmen einen Sitz gewinnt – die Stimmen der unterlegenen Bewerber*innen verfallen. Eine detaillierte Übersicht für das geltende Wahlrecht je nach Bundesland findet sich unter www.wahlrecht.de.
 

Der Einfluss des Wahlrechts

Die Ausgestaltung des Wahlrechts in den Bundesländern hat großen Einfluss darauf, wie gut die Chancen für eine höhere Frauenrepräsentanz stehen. Insbesondere der Anteil von Sitzen, die als Direktmandate vergeben werden, hat einen direkten Einfluss auf die Partizipationschancen von Frauen. Dabei gilt die Regel, dass das Mehrheitswahlrecht Frauen benachteiligt. Die Frauenrepräsentanz liegt weltweit in Systemen mit Mehrheitswahlrecht (= ausschließliche Vergabe der Sitze an Direktkandidat*innen, wie zum Beispiel in Großbritannien) im Durchschnitt bei nur 20 Prozent und in gemischten Systemen, wie der deutschen personalisierten Verhältniswahl, bei 26,5 Prozent. In Systemen mit reiner Verhältnis-, also Listenwahl, liegt sie bei durchschnittlich 27,4 Prozent (Stand 2018).[1]

Der Einfluss des Wahlrechts lässt sich auch deutlich an den Frauenanteilen der deutschen Länderparlamente nachvollziehen: Lange Zeit war Baden-Württemberg das Schlusslicht. Das Landtagswahlsystem des Bundeslandes kommt einem Mehrheitswahlrecht am nächsten. Die Wähler*innen und Wähler haben nur eine Stimme, die sie an eine*n Direktkandidat*in ihres Wahlkreises vergeben. Auf diese Weise werden 70 von 120 Mandaten vergeben. Die übrigen 50 Mandate werden den Stimmenanteilen der Parteien entsprechend an unterlegene Wahlkreiskandidat*innen vergeben, um die Stimmen- und Sitzanteile in größtmögliche Übereinstimmung zu bringen. Es werden jedoch im Vorfeld keine Kandidat*innenlisten erstellt, sondern 100 Prozent der Mandate mittelbar oder unmittelbar über Direktkandidaturen generiert. Erst mit der Landtagswahl 2016 stieg der Frauenanteil auf 24,5 Prozent. Bemühungen, das baden-württembergische Wahlrecht entsprechend zu reformieren, waren bisher politisch nicht durchsetzbar.

Der Einzug der AfD in zahlreiche Länderparlamente hat den Frauenanteil dort erheblich reduziert. In Sachsen-Anhalt z.B. sank der Frauenanteil 2016 von 32,4 auf 24,4 Prozent mit dem Einzug der AfD.

Im aktuell bestplatzierten Bundesland Thüringen wird dagegen die Hälfte der Sitze im Landtag nach geschlossenen Listen vergeben. „Geschlossen“ bedeutet, dass die Wähler*innen eine feste Liste wählen. Dadurch werden von den Parteien beschlossene Quotierungen, zum Beispiel die Besetzung einer Liste im Reißverschlussprinzip, zumindest für die nach Liste vergebenen Mandate auch in der Sitzverteilung abgebildet. Das Saarland sieht ein reines Verhältniswahlrecht in geschlossenen Listen vor und liegt aktuell auf Platz sechs.

Für die kommunalen Vertretungen (Kreis- und Stadt- bzw. Gemeinderäte) gilt in der Regel das Verhältniswahlrecht mit offenen Listen. Das heißt, die Wähler*innen vergeben ihre Stimmen (meistens drei bis fünf, teilweise auch der Anzahl der zu vergebenden Sitze entsprechend) entweder gesammelt an eine Liste, verteilt an mehrere Kandidat*innen und Kandidaten (Panaschieren) und/oder gehäuft an ein*e Bewerber*in (Kumulieren).  Auch in einigen Bundesländern finden sich vergleichbare Regelungen, wie zum Beispiel in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen (personalisiertes Verhältniswahlrecht mit freier bzw. starrer Liste).

Bürgermeister- und Landratswahlen sind dagegen mittlerweile allen Bundesländern Direktwahlen. Das heißt, die Wähler*innen wählen in einem bzw. zwei Wahlgängen (falls eine Stichwahl vorgesehen ist) lediglich ihre*n favorisierte*n Kandidat*in.

Der Einfluss der Parteien

Ob Bundestags-, Landtags- oder Stadtratswahl – wer Kandidat*in wird, entscheiden ganz überwiegend die politischen Parteien und Wähler*innengruppen. Da sie die Nominierungshoheit sowohl für die Listenplätze als auch weitestgehend für die Direktkandidaturen innehaben, treffen sie bereits vor der eigentlichen Wahl wichtige Vorentscheidungen, indem sie bestimmen, wer überhaupt zur Wahl steht. Obwohl sich theoretisch jede*r Bürger*in über 18 Jahren in einer Direktkandidatur zur Wahl stellen darf, sind die politischen Parteien als Multiplikatoren und Unterstützungsapparate für eine erfolgreiche Kandidatur zum Bundes- oder Landtag unverzichtbar. Und selbst auf kommunaler Ebene, wo parteilose Amts- und Mandatsträger*innen keine Seltenheit sind, haben diese meist auf Vorschlag oder mit der Unterstützung einer oder mehrerer Parteien kandidiert. Die meisten der politischen Parteien haben sich auf freiwilliger Basis eigene Regeln für die Repräsentanz der Geschlechter auf Wahllisten und/oder für (parteiinterne) Ämter gegeben. Die Regelungen sind jedoch sehr heterogen und keine der Parteien sieht Sanktionen bei Nichterfüllung der Quote vor.


Ein Überblick

CDU: Es gilt ein Quorum, nach dem ein Drittel der Parteiämter, Mandate und Listenplätze an Frauen vergeben werden soll. Kann dieses Ziel in einem ersten Wahlgang nicht erreicht werden, muss die Wahl ggf. mit neuen Vorschlägen wiederholt werden. Das Ergebnis des zweiten Wahlgangs ist gültig, auch wenn das Quorum nicht erreicht werden konnte. (siehe Statut der CDU, §15A)

CSU: Die einzige aktuell im Bundestag vertretene Partei, die sich keine freiwillige Regelung für die Quotierung von Listenplätzen gegeben hat. Auf Landes- und Bezirksebene sollen 40 Prozent der Parteiämter an Frauen vergeben werden. (siehe Satzung der CSU, §8A)

Bündnis 90/Die Grünen: Eine Frauenquote von 50 Prozent ist für alle Ämter, Mandate und Listenplätze grundsätzlich vorgesehen. Listenplätze werden alternierend vergeben, wobei die ungeraden Plätze, also auch die jeweilige Spitzenkandidatur, prinzipiell von einer Frau besetzt werden sollen. (siehe Frauenstatut von Bündnis 90/Die Grünen, §1A)

DIE LINKE: Ämter, Mandate und Plätze auf Wahllisten sollen zu 50 Prozent an Frauen vergeben werden. Auf Listen stehen Frauen einer der ersten beiden Listenplätze sowie im Folgenden die ungeraden Plätze zu. (siehe Bundessatzung der Partei DIE LINKE, §10A)

SPD:  Listenaufstellungen und Ämterbesetzungen müssen mindestens 40 Prozent der Plätze an Frauen vergeben werden. Zudem schreibt die Satzung die alternierende Besetzung von Wahllisten nach dem Reißverschlussprinzip für Bundestags- und Europawahlen vor, was einer 50-Prozentquote entspricht. (siehe Satzung der SPD, §4A)

FDP: Es gilt keine verpflichtende Quotenregelung. Auf ihrem Parteitag im April 2019 beschloss die FDP, zur Erhöhung des Frauenanteils zwischen Bundesverband und Landesverbänden Zielvereinbarungen abzuschließen. Diese sollen regional differenziert vereinbart werden und für verschiedene Funktionen, Ebenen und Mandate Ziele für die Repräsentation von Frauen vorsehen (siehe Beschluss des 70. Ordentlichen Bundesparteitags der FDP, 2019).

AfD: In der AfD werden sowohl parteiinterne Quoten als auch Maßnahmen zur Frauenförderung abgelehnt. Auch die Gründung parteiinterner Frauenorganisationen schließt die Satzung explizit aus. (siehe Bundessatzung der AfD, § 17 Abs. 2A).

Insgesamt liegt der Anteil von Frauen an den Listen- wie Direktkandidaturen niedriger als derjenige der Männer – oft auch unter den Quoten, die sich die meisten Parteien freiwillig verordnet haben. Darüber hinaus werden Frauen oftmals die wenig aussichtsreichen Plätze am Ende der Wahlliste zugewiesen, wenn es keine Regelungen zur genauen Listenplatzierung gibt (zum Beispiel Reißver-schlussprinzip). Das heißt, bei einem durchschnittlichen Wahlergebnis ihrer Partei haben sie schlechtere Chancen, ins Parlament einzuziehen. Durch die Direktmandate lässt sich das nicht ausgleichen, im Gegenteil: Als Wahlkreiskandidat*innen nominieren Parteien besonders selten Frauen. Zum einen gelten hier keine Quoten, zum anderen sind viele Wahlkreise bereits von männlichen Abgeordneten „besetzt“. Für die Bundestagswahl 2017 zum Beispiel hatten die Wahllisten der in den Bundestag gewählten Parteien mit einem Frauenanteil von 38 Prozent. In den 299 Wahlkreisen hingegen wurden 487 Frauen und 1.292 Männer aufgestellt – direkt gewählt wurden 64 Frauen (21 Prozent) und 235 Männer (79 Prozent).

Bei der Bundestagswahl 2017 gingen im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen die dort besonders aussichtsreichen Direktkandidaturen der SPD zu 67,2[2] Prozent an männliche Bewerber. Die CDU, die ihre Bundestagsmandate traditionell zu einem großen Anteil überdirekt gewählte Bewerber generiert, weist hier bundesweit ebenfalls einen Männeranteil von 77,8[3] Prozent aus.