Die Gastartikel

Vergessene Vorkämpferinnen: Die Erinnerung an Aktivistinnen und Politikerinnen der Frauenbewegung

Wieso sind viele Vorkämpferinnen des Frauenwahlrechts und die ersten Parlamentarierinnen in unserem kollektiven Gedächtnis so wenig präsent? Dr. Barbara von Hindenburg beantwortet für das Themendossier diese Frage aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive.

ÜBER DIE AUTORIN

Dr. Barbara von Hindenburg

Dr. Barbara von Hindenburg studierte Geschichte, Politik- und Literaturwissenschaften. Sie war lange Jahre leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt an der FU Berlin. 2017 veröffentlichte sie eine biographische Analyse und ein biographisches Handbuch über 1.400 Abgeordnete des Preußischen Landtags 1919–1933. Sie arbeitet als freie Historikerin und Publizistin und hält Vorträge. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das 19. und 20. Jahrhundert, neue Politikgeschichte, Biographieforschung sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte.

In diesem Jahr wird an vielen Orten – wie hier in sozialen Netzwerken oder in Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen – 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert. Dabei richtet sich der Blick unweigerlich zurück auf die Geschichte des Frauenwahlrechts und auf seine Akteurinnen. Wer waren die Streiterinnen für das Frauenwahlrecht, welche Positionen bezogen sie, welche Frauen agierten möglicherweise dagegen? Wer waren die ersten Parlamentarierinnen?

In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Wissen um diesen Teil unserer Geschichte zwar erweitert, aber es gibt noch erhebliche Wissens- und Forschungslücken. Frauen in der Politik sind nach wie vor nicht in vergleichbarer Weise wie Männer in unserem historischen Gedächtnis verankert. Wie aber kommt es zu dieser geteilten Erinnerung und Überlieferung? Wer kann Namen wie Agnes Neuhaus, Marie Baum, Clara Mende, Martha Arendsee oder Margarete Behm nennen?

Die Gründe dafür sind vielfältig – einige wenige werden hier kurz beleuchtet.

Einer der Gründe liegt in der Geschichtswissenschaft selbst, die lange Zeit die geschlechtergeschichtliche Perspektive vernachlässigte. Die klassische Politikgeschichte schließt beispielweise mit ihrer Festlegung auf politische Parteien, Parlamente und öffentliche Institutionen viele der politischen Handlungen der Aktivistinnen der Frauenbewegung und anderer Frauen von vornherein aus. Frauen waren wegen rechtlicher – bis 1908 – und habitueller Grenzen von der politischen Teilhabe an Parteien, Vereinen und Versammlungen ausgeschlossen. Sie durften bis 1908 auch nicht öffentlich über politische Themen sprechen. Dennoch gab es schon zu dieser Zeit eine politische Teilhabe von Frauen. Sie muss nur mit anderen Perspektiven und Methoden untersucht werden: In der neuen Politikgeschichte ist eine zentrale Fragestellung, wer und in welchem Zusammenhang Handlungen als politische Handlungen definiert oder andere davon ausschließt. Sie ermöglicht es, politische Handlungen der Akteurinnen jenseits von diskursiven und rechtlichen Festlegungen aufzuzeigen.

Ein weiterer Aspekt ist die Auswahl der Quellen. Frauen waren beispielsweise auch schon vor 1908 bzw. 1918 in geringem Maße in politischen Parteien aktiv. Wer die offizielle – männliche – Parteipublizistik der bürgerlichen Parteien, beispielsweise der nationalliberalen Partei, liest, wird dort kaum zu Frauen fündig. Ohne offizielle Parteimitgliedschaft ist die Teilnahme von Frauen an Parteitagen nicht belegt, sie lieferten weder Redebeiträge noch Anträge. Wer andere Quellen hinzuzieht, und zwar Publikationen aus der Frauenbewegung, wird feststellen, dass in der nationalliberalen Partei auch Frauen tätig waren, sie dort ihre Rechte erweiterten und für ihre Themen stritten. Historisch Forschende, die diesen Perspektivwechsel bei der Quellenrecherche nicht vornehmen, werden eine andere Geschichte der nationalliberalen Partei, und zwar ohne politische Teilhabe von Frauen schreiben. Auch die politische Teilhabe von Frauen als Wahlhelferinnen ist nicht schriftlich dokumentiert. Lediglich die Tatsache, dass sie diese politische Arbeit leisteten, ist bekannt, nicht aber, wer, wann und in welchem Umfang.

In der sozialdemokratischen Partei engagierten sich Frauen hingegen bereits, bevor ihnen eine Parteimitgliedschaft rechtlich möglich war. Schon 1896 fand ein erster, illegalisierter Frauenparteitag statt, über den folglich keine offiziellen Quellen überliefert sind. Eine Erwähnung findet sich in späteren Berichten über Frauenparteitage.

Ein weiterer Aspekt ist die Überlieferung von Quellen. In kommunalen und regionalen Archiven ist die politische Tätigkeit von Männern überliefert, weil sie Teil der offiziellen Kommunalpolitik, Mitglieder von Parteien oder Honoratiorenvereinen waren. Eine vergleichbare Tätigkeit von Frauen fand häufig jenseits offizieller Institutionen und rechtlicher Festlegungen statt und ist daher selten dokumentiert. Die spätere linksliberale Abgeordnete Martha Dönhoff engagierte sich zum Beispiel in herausragender Weise in einem Frauenverein in Witten an der Ruhr und in Rheinland-Westfalen. Ihre Tätigkeit für den Frauenverein ist über einen einzigen Jahresbericht ihres Vereins im Stadtarchiv Witten überliefert. Der Tätigkeit von Frauen wurde nicht dieselbe Bedeutung beigemessen. Von Martha Dönhoff gibt es einen sehr kleinen Nachlass im Archiv der Friedrich-Naumann-Stiftung, der aber nur ihre Tätigkeit als Parlamentarierin und für die linksliberale deutschdemokratische Partei nach 1918 umfasst. Ihre politische Betätigung vor 1918, die eben nicht in einer Partei erfolgte, ist dagegen kaum überliefert. Es bedurfte in den 1980er Jahren einer Initiative zur eigenen Archivgründung von Frauen in einem Verein, um Teile der Überlieferungen von Frauenvereinen und -verbänden zu sichern – heute das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. 2018 schlossen sich verschiedene Frauenarchive mit dem Ziel der Digitalisierung und Sichtbarmachung der Frauengeschichte zusammen.

Auch Frauen selbst bewegten sich in diesem Bedeutungsdiskurs – die Parlamentarierin Gertrud Hanna sagte, als sie, anlässlich ihres 25-jährigen Gewerkschaftsjubiläums, von einem Journalisten interviewt werden sollte: „‚Von mir erfahren Sie nischt. Kommt jar nicht in Frage. Een Bild wollen Sie ooch noch haben? Jiebt et nich! Von mir ist nischt zu erzählen!‘“ Aktivistinnen der Frauenbewegung und Politikerinnen waren zudem häufig unverheiratet. Dies trifft mehr auf Parlamentarierinnen bürgerlicher Parteien zu, weniger auf sozialdemokratische. Dies hatte habituelle Gründe – eine alleinstehende Frau hatte weniger Rücksichten auf ihre Familie zu nehmen – aber auch rechtliche Gründe. Die Hälfte der Parlamentarierinnen der bürgerlichen Parteien waren Lehrerinnen und infolge des Beamtinnenzölibats unverheiratet. Es gab auch Aktivistinnen, die in einer lesbischen Lebensgemeinschaft – wie Anita Augspurg –, oder solche, die in einer freundschaftlichen Lebensgemeinschaft, einer sogenannten Boston-Ehe, lebten – wie Helene Lange und Gertrud Bäumer. Nachlässe von Parlamentarierinnen wurden dann auch seltener überliefert, wenn sie keine nahen Familienangehörigen hatten, die sich der Pflege ihres Nachlasses verpflichtet gefühlt hätten. Selbst wenn es Familienangehörige gab, wurden schriftliche Quellen von Parlamentarierinnen selten erhalten. Familien erinnerten sich an ihre weiblichen Angehörigen häufiger in ihrer Funktion als Tanten, Mütter, Großmütter. Bei männlichen Familienangehörigen spielte die öffentliche Bedeutung eine größere Rolle. Daher schienen in vielen Familien die Quellen von Männern häufiger erhaltenswert als die von Frauen.

Die Frauenbewegung und die politische parlamentarische Teilhabe von Frauen seit 100 Jahren ist ein bedeutender Teil unserer jüngeren Geschichte. Sich die Überlieferung der Quellen bewusst zu machen, kann dazu beitragen, unser Wissen um die Aktivistinnen der Frauenbewegung und die Politikerinnen zu erweitern. Vielleicht können künftige Generationen nicht nur Namen wie August Bebel, sondern auch Pauline Staegemann, Gertrud Bäumer oder Jenny Apolant nennen. Eine mangelnde Überlieferung heißt nicht einen Mangel an Bedeutung.