Ausblick in eine vielfältige Zukunft

Was wäre, wenn...

Ob in der Politik, in wirtschaftlichen Führungspositionen oder in der Stadtplanung: Menschen, insbesondere Frauen*, mit Migrationsbiografie und ihre Bedürfnisse sind in zentralen gesellschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert. Wie aber könnte Deutschland aussehen, wenn sich das ändern würde? Ein Ausblick.

Im Jahr 2020 hatten 21,9 Millionen der insgesamt 81,9 Millionen Einwohner in Deutschland eine Migrationsgeschichte – das entspricht einem Anteil von 26,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Liest man diese Zahlen, könnte man glauben, dass sie auch einen großen Anteil an der Gestaltung und Verwaltung Deutschlands haben müssten. Bisher ist allerdings das Gegenteil der Fall. Was bedeutet das für unser Zusammenleben und wie könnte unsere Gesellschaft aussehen, wenn sich das ändern würde?

1. Politik für alle

Derzeit haben nur 11,3 Prozent der Bundestagsabgeordneten eine Migrationsgeschichte, auf kommunaler Ebene sind es sogar nur etwa drei Prozent der Politiker:innen. Dabei lebt die Demokratie davon, dass unterschiedliche Interessen vertreten und diskutiert werden. Hierfür ist es zentral, dass Parlamente divers zusammengesetzt sind und Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen repräsentiert werden. Studien, wie zum Beispiel vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte engagieren wollen – und das auch tun, allerdings vor allem in Sportvereinen, Kulturclubs, Kirchen und Moscheen. Ihr Potenzial an Engagement und Gestaltungswillen geht somit derzeit zwar nicht verloren, wird jedoch auch nicht dort eingesetzt, wo die zukunftsprägenden Entscheidungen getroffen werden: In den Parlamenten.

Gäbe es dort mehr Mandatsträger:innen mit Migrationsgeschichte, sind die Chancen groß, dass nicht nur die Interessen dieser großen Bevölkerungsgruppe besser artikuliert werden könnten und somit die Zivilgesellschaft gestärkt, sondern auch, dass sich das Thema Migration als Querschnittsthema in politische Debatten etablieren würde. Vielfalt könnte somit zu einem selbstverständlichen Aspekt der Debattenkultur werden – und Deutschland progressiver, agiler und solidarischer. Wichtige Eigenschaften einer Demokratie, um Herausforderungen wie die Klimakrise bewältigen zu können. Erkenntnisse aus der Wirtschaft zeigen seit Jahren, dass Teams mit vielfältigen Kompetenzen und kulturell-sprachlichen Hintergründen die Innovationskraft von Unternehmen erhöhen – eine echte Blaupause für die Politik der Zukunft.

2. Städte der Vielfalt

Wissenschaftler:innen beschreiben, dass besonders Frauen bei der Stadtplanung bis heute häufig vernachlässigt werden. Historischer Hintergrund davon ist, dass Städte lange nach den Bedürfnissen ihrer männlichen Planer erbaut wurden. Heutige Städte sind somit besonders lebenswert wie für einen gesunden Mann, der in Vollzeit erwerbstätig ist und Auto fährt – Fußgänger:innen, die mit dem Kinderwagen oder Rollator unterwegs sind haben das Nachsehen. Frauen bringen zudem für Haushalt und Kinderbetreuung noch immer mehr Zeit auf als Männer. Öffentliche Verkehrsmittel müssten deshalb schnelle Anbindungen an die Kita, aber auch an den Arbeitsplatz bieten, um diese Rollenverteilung nicht weiter zu zementieren, sondern stattdessen mehr Freiheit für unterschiedliche Lebensentwürfe zu ermöglichen.

Dunkle Unterführungen, schwer einzusehende Wege und schlecht beleuchtete Plätze: Sogenannte Angsträume stellen vor allem für Frauen und Menschen, die als nicht weiß gelesen werden, einen Unsicherheitsfaktor dar, dies belegen aktuelle Erhebungen. Solche Angsträume müssten somit abgebaut werden, wo es nur möglich ist. Dominieren sie die Stadt, werden vor allem Frauen den öffentlichen Raum meiden. Das ist fatal, schließlich sollte dieser ein Ort der demokratischen Auseinandersetzung und des Zusammenlebens sein.

Gender Planning, also eine Stadtplanung, die geschlechtsspezifische Anforderungen beachtet, ohne dabei Rollenbilder festzuschreiben ist ein erster Schritt, um Städte inklusiver zu machen. Alle Bedürfnisse und Lebensentwürfe gleichermaßen zu berücksichtigen, hilft nicht nur Frauen*, sondern allen Bewohner:innen der Stadt. Das hat man mittlerweile auch in Deutschland bemerkt: Bei Bauprojekten ist das Gender Planning seit 2005 eine Voraussetzung für Fördergelder. Als besonders produktiv hat es sich zudem erwiesen, die Gremien, in denen Stadtplanung vorangetrieben wird, vielfältig zu besetzen und Bürger:innenbeteiligung zu ermöglichen. Dies führte in der Praxis zu Entwürfen, die weniger autofreundlich, dafür aber menschen- und klimafreundlicher waren, mehr Parks, Räume für Erholung und Begegnung boten sowie die Segregation einzelner Stadtteile verminderten. Ein Modell für die Zukunft, bis Städte für alle Bewohner:innen gleichermaßen lebenswert sind.

3. Diverse Arbeitswelt

Diversity in der Wirtschaft oder personelle Vielfalt bedeutet, dass Beschäftigte zusammenarbeiten, die sich zum Beispiel hinsichtlich ihres Geschlechtes, Alters, oder ihrer biografischen Hintergründe unterscheiden. Für Unternehmen gilt sie mittlerweile als ökonomischer Erfolgsfaktor – Studien haben immer wieder belegt, dass gemischte Teams bessere Ergebnisse erzielen.

Dennoch ist insbesondere der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte in Spitzenjobs noch immer gering. In Führungspositionen finden sich derzeit nur zu 9,2 Prozent Menschen, bei denen mindestens ein Elternteil bei Geburt keine deutsche Staatsbürgerschaft hatte. Besonders unterrepräsentiert sind sie in Justiz (1,3 Prozent), Gewerkschaften (3 Prozent) und Militär (2 Prozent), so eine aktuelle Studie zeigt des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung. Neben Diskriminierung sei hierbei auch teilweise das Fehlen von Netzwerken und Seilschaften ein Faktor. 

Vielfältige Perspektiven machen die Gesellschaft flexibler und zukunftsfähiger. Das kommt uns allen zugute – gerade in Zeiten von Populismus und Polarisierung. Zudem hat die Vielfalt am Arbeitsplatz greif- und messbare Vorteile für Unternehmen. In einer Gesellschaft der Zukunft, könnte Diversität zu erheblichen Einsparungen bei den Beschäftigungs- und Ausbildungskosten führen, darauf deuten aktuelle Analysen hin. Laut einer weltweiten McKinsey-Umfrage haben besonders divers aufgestellte Unternehmen zudem eine um 35% höhere Wahrscheinlichkeit, finanziell überdurchschnittliche Erfolge zu feiern. In einem Deutschland der Zukunft könnte somit das Erkennen von vielfältigen und individuellen Erfahrungen und Leistungen und somit die Förderung des einzelnen Menschen im Mittelpunkt stehen – Wirtschaftliche Erfolge inklusive!

4. Mediale Teilhabe: Die Gesellschaft abbilden

Möchte man Deutschlands Medienlandschaft vielfältiger aufstellen, könnte man zunächst einen Blick in die Schulbücher werfen: Wie die jüngste Schulbuchstudie Migration und Integration zeigt, wird Migration in Schulbüchern vorrangig als Problem und Vielfalt nicht als Normalität dargestellt. Ähnlich sieht es bei Geschlechterrollen aus, die zumeist eher konservativ gezeichnet werden. Dabei sind insbesondere Kinder noch nicht in der Lage, Stereotype als solche zu erkennen, sie identifizieren sich stark mit den dargestellten Geschlechterrollen, wie Studien belegen.

Auch in deutschen Medienhäusern mangelt es an Diversität. Schätzungen gehen davon aus, dass hier lediglich 5 bis 10 Prozent Journalist:innen mit Migrationsgeschichte arbeiten, in manchen Redaktionen sind weiße Kolleg:innen (fast) unter sich. Dabei kommt ihnen eine besondere Verantwortung zu, weil die in Kultur und Medien Tätigen Inhalte schaffen, Geschichten erzählen und damit kulturelle Normen prägen. Was für eine Chance, in einem Deutschland der Zukunft, gesellschaftliche Realitäten abzubilden und Stereotypen zu überwinden!

Als erste Schritte in diese Richtung empfehlen die neuen Medienmacher:innen deutschen Redaktionen, mehr Journalist:innen aus Einwandererfamilien einzustellen, die neue Themen aus (post)migrantischen Communitys in ihre Redaktionen tragen. Bei Vox-Pops mehr darauf zu achten, einen Querschnitt der Gesellschaft zu zeigen und bei der Bebilderung das gesamte Bild ihrer Region zu zeigen.

In einem Deutschland der Zukunft könnten Medien auf diese Weise eine zentrale Rolle gegen Rassismus und bei der Vermittlung und Förderung von Toleranz, Respekt und Vielfalt einnehmen.

Fazit: Was wäre wenn...

...wir in einer Gesellschaft leben würden, die von mehr Frauen* und Menschen mit Migrationsbiografie gestaltet werden würde? Viele Studien und Analysen deuten darauf hin, dass dies zu mehr Innovation und Gerechtigkeit in unserem Zusammenleben führen und die Zivilgesellschaft stärken würde. Modelle für mehr Viefalt in den einzelnen Bereichen gibt es genug – sie müssen nun diskutiert und umgesetzt werden.